Weniger als 60 Sekunden
Auf ein Wort
Haben Sie schon einmal versucht, einen Sachverhalt in weniger als 60 Sekunden zu erklären? Ich denke, ich schaffe das nicht. Anscheinend wird es aber immer notwendiger, Informationen oder Stellungnahmen in möglichst kurzen Einheiten zu verpacken. Das ist eine Zeitvorgabe, die die Plattform TikTok ihren Usern vorgibt, und sie haben Erfolg mit diesen kurzen Clips.
Da haben wir es als Kirche nicht so leicht. Die Bibel als Grundlage unseres Glaubens hat weit mehr als 1000 Seiten und ein Mensch würde 49 Stunden benötigen, um die ganze Heilige Schrift zu lesen. Das ist deutlich mehr als 60 Sekunden. Für uns als Kirche ist das ein Dilemma, denn wir wollen ja auch gerade junge Menschen ansprechen. Als Pastorin habe ich mir überlegt, ob ich von TikTok lernen kann. Deshalb habe ich mir ein paar Clips angeschaut. Da gibt es nicht nur lustige Tiervideos, sondern auch viele gute Ratschläge und Lebenshilfen von Influencern. Das ist ja durchaus unterhaltsam und manchmal wirklich gut gemacht. Aber bekomme ich von der Influencerin oder dem Influencer, die sich als meine Freundin oder mein Kumpel ausgeben, wirklich einen guten Rat für mein Leben? Das muss wirklich jede oder jeder für sich entscheiden.
Was mir aufgefallen ist, dass neben der kurzen Zeit des Videos oft auch zwei Drittel des Bildes nicht zu sehen sind. Was ist rechts und links von der Aufnahme? Welche Botschaften und Bilder sind in dem unscharfen Teil des Videos? Meine Fantasie ist angeregt und blüht mit wilden Spekulationen. Vielleicht steht da noch die Wäsche zum Trocknen oder die Chipstüten vom Vortag sind noch im Wohnzimmer. Wenn ich mir das vorstelle, werden die Influencerinnen und Influencer plötzlich sehr menschlich für mich. Und plötzlich gibt es etwas, was mich auch in weniger als 60 Sekunden berührt.
Ich versuche jetzt mal die christliche Botschaft in weniger als 60 Sekunden weiterzugeben: Da ist ein Mensch im Zentrum meines Videos, dieser Mensch kann wunderbar lachen, aber er weint plötzlich, dann ist er wütend, plötzlich zärtlich, aber auch verletzend und dann wieder verständnisvoll. Wer ist an den verschwommenen Rändern meines Videos? Das kann jeder und jede für sich selbst ausmalen. Das sind Partnerinnen und Freunde, die mitlachen und trösten. Da ist Gott, der mitlacht und mitweint. Und wenn ich mir Inspiration für meine Fantasie holen möchte, dann kann ich einfach mal in der Bibel nachschauen, was mich anspricht. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ So steht es in den Evangelien, der frohmachenden Botschaft. Menschlichkeit in weniger als 60 Sekunden zu vermitteln, das geht tatsächlich. Geschafft!?
Heidrun Greine, Studierendenpfarrerin der Evangelischen Studierendengemeinde (ESG) Paderborn
Der Beitrag ist erschienen in der Reihe „Auf ein Wort“ in der Neuen Westfälischen Paderborn am Freitag, 3. Mai 2024.